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Seit Monaten wächst der Zulauf beim Messengerdienst Telegram. Es ist eine Zeit, in der viele Menschen verunsichert sind und sich nach einfachen Erklärungen und auch Führung im Chaos sehnen, nach entlastenden Geschichten inmitten der Komplexität einer globalen Pandemie im globalen Kapitalismus. Bei Telegram ist all das zu finden. Verschiedenste Gruppen und Kanäle eröffnen verunsicherten deutschen Bürger:innen eine Welt, in der endlich alles logisch zusammenhängt, und die einem beim Eintritt gratis das Gefühl schenkt, besonders zu sein, besonders schlau, besonders wach, besonders kritisch. Ein wohliges Gefühl! Und wer nach einer charismatischen Persönlichkeit sucht, die exklusiv im direkten Monolog (in Kanälen wie etwa von Attila Hildmann und Eva Herman kann nicht selbst kommentiert werden) mit tausenden Mitmenschen die neuesten Ungeheuerlichkeiten mit einem teilt, wird hier sicher fündig.

Deutschlandweit kann in diesen Gruppen und Kanälen eine steigende Radikalisierung der Inhalte beobachtet werden. Es fängt an bei unschuldig anmutenden lokalen Gruppen, in denen sich zum Singen verabredet wird. In anderen wird der „Widerstand“ gegen die Maskenpflicht heroisch beklatscht, von Erfahrungen in Supermärkten berichtet. Wieder andere vernetzen besorgte Eltern, die sich dort über den Umgang mit der Maskenpflicht in Schulen und die Beschaffung von Attesten bei bestimmten Ärzten austauschen. Es wird sich zu Veranstaltungen nach Art der Querdenken-Demonstrationen und zu Flashmobs verabredet, es werden Flyer verteilt. Und es wird sich gegenseitig angeheizt, mit Worten, aber auch Youtube-Videos, Bildern, geteilten Texten, Sprachnachrichten und Auszügen aus größeren Kanälen und Gruppen.

Seit Längerem existieren auch für den Raum Landsberg solche lokalen und vernetzten Gruppen. Es gibt hier einige Schreiber:innen, die besonders auffallen, und hunderte von gelegentlichen Stimmen oder stummen Mitleser:innen. Wer hier eine Weile querliest, kann feststellen, dass hier von der gemäßigten, etwas verunsicherten Person bis zur Stimmungsmacherin mit wiederkehrenden extremen und teilweise menschenverachtenden Ansichten vieles vertreten ist – und, wie in den einschlägigen Gruppen zum Thema „Corona“ auf Telegram üblich, im Prinzip alles geduldet wird. Klassische und bekannte, aber auch neue Verschwörungstheorien und ungeprüfte Behauptungen leiten naive oder aufgebrachte Menschen mit wenig Medienkompetenz (oder solche, die sich in einem bereits geprägten Umfeld bewegen) schnell weiter dorthin, wo das Internet seltsam wird.

Mittlerweile stößt man auch in jeder der hiesigen Gruppen irgendwann auf Inhalte der QAnon-Legende, die aus den Tiefen des US-amerikanischen Internets stammt. Darin wird behauptet, dass Politiker:innen und andere Prominente (die „Elite“) amerikanische Kinder in unterirdischen Tunneln festhalten, um eine Droge aus ihrem Blut zu gewinnen, während allein Donald Trump dagegen ankämpft. Die Erzählung, die in Abwandlungen seit Jahren kursiert, beinhaltet ein komplexes Wirrwarr von rechtsextremen und antisemitischen Theorien und neuerdings auch die Idee, dass die Corona-Pandemie ein Ablenkungsmanöver in diesem Zusammenhang darstellen soll (gerade die antisemitischen Anteile werden nicht immer gleich als solche erkannt – ein Grund, wieso Hinweise von außen oft als “Nazikeule” gedeutet werden).

Auch solche Inhalte finden in Landsberg Beifall. Beliebt ist auch die Geschichte der am Maskentragen gestorbenen Kinder – diese wurde bereits in der Landsberger Innenstadt auf Flugblättern verteilt und zuletzt, vom Kauferinger Arzt Rolf Kron, auf einer Bühne im Zuge einer Querdenker-Veranstaltung vorgetragen. Der Arzt fiel zuletzt auf, als er auf einer anderen Demo auf einer Bühne den Hitlergruß zeigte (Quelle u.a.: allgaeu-rechtsaußen.de).

Eine Nutzerin gab in einer Telegramgruppe offen zu, sich die Namen von ungemütlichen Polizisten „aufzuheben“, um „danach“ (wohl: nach dem Umsturz des Systems) darauf zurückkommen zu können. Es klingt, als wolle sie zum passenden Zeitpunkt Rache üben. Das Grundgesetz und die Existenz des deutschen Staates wird offen angezweifelt („GmbH“). Feindbilder sind u.a. Bill Gates, Angela Merkel, aber auch Jens Spahn, der Ziel von homophobem Spott wird. Unwidersprochen wird der mittlerweile unverhohlen rechtsextrem auffallende Ex-Koch Attila Hildmann zitiert. 

Homophobe Witze in Richtung des damals erkrankten Jens Spahn

Es wird sich immer wieder gegenseitig das Ego gestreichelt und versichert, man würde sich keine Angst machen lassen, im Gegensatz zu den „Schlafschafen“ (dieses Wort wird ohne jede Ironie genutzt), die sich „fügen“ und eine Maske tragen. Das wirkt geradezu amüsant, wenn man die Energie betrachtet, mit der die vermeintlich Angstfreien angstmachende und furchtbare, aber nachweislich erfundene Geschichten ständig wiederholen. Wie sie verzweifelt kämpfen gegen einen unsichtbaren Feind. Tatsächlich ist, entgegen aller Behauptungen, sehr viel Angst zu spüren. Es ist die Angst vor dem Kontrollverlust (“wir haben keine Handhabe mehr über unser eigenes Leben”). Die Angst vor den Masken als Zeichen einer eingebildeten Unterdrückung, vor einer Impfpflicht. Die Angst, selbst nicht wichtig genug zu sein, die Welt nicht mehr überblicken zu können und den globalen Herausforderungen ausgeliefert zu sein.

Aus der Angst folgt der Rückzug ins Überschaubare, in die Gruppe mit gemeinsamen und unbestrittenen Werten und klaren Feindbildern. Es gehört dazu, dass aktive Nutzer:innen der Telegramgruppen und -kanäle den offiziellen Medien keinen Glauben schenken, weil dort nur Lügen verbreitet würden (Erinnerung: „Lügenpresse“ war schon vor Corona ein Schlagwort der AfD). So schaffen sie sich eine Blase, in der sich das einmal übernommene Weltbild stets von neuem von allen Seiten bestätigt. Ein Umfeld, das einen nie wieder dazu auffordern wird, sich selbst zu hinterfragen. An dem man sich vom Sofa aus den Titel „Freiheitskämpfer:in“ verleihen kann und dafür garantiert Anerkennung erhält.

Dort jemals wieder herauszufinden ist möglich, aber setzt eine gewisse Fähigkeit zur Reflexion voraus, und vor allem: den Willen. Diesen wiederzufinden, wo die gefundene Nische einen doch so warm willkommen heißt und sanft gefangen hält in einer Mischung aus Selbstüberhöhung, der tröstlichen Bestätigung, dass Egoismus ein Zeichen von Intelligenz sei und immer wieder den Erinnerungen an die ungeheuerlichen Dinge, die „da draußen“ passieren, ist sicher nicht einfach.

Einfach ist es dagegen in diesem Pool, als Akteur mit einer klaren und extremen Agenda nach Anhängern zu fischen und aktiv mitzugestalten. So ist es kaum verwunderlich, dass auch in den Landsberger Telegramgruppen Mitglieder der AfD immer wieder ungestört Werbung für ihre Partei machen. Andere treten ohne deutliche Zugehörigkeit zu einer Partei, aber mit extremem Vokabular und düsteren Aussagen auf (“denn sie werden euch alles nehmen […] wir werden alles verlieren”). Deutschland sei auf dem Weg zu einer Diktatur. Den vorläufigen Gipfel der Anmaßung markiert ein falsches Zitat von Sophie Scholl (“Der größte Schaden entsteht durch die schweigende Mehrheit, die nur überleben will, sich fügt und alles mitmacht”), das unter Querdenker:innen als Profilbild beliebt ist. Immer wieder wird die gegenwärtige Politik mit “Deutschland 1933” verglichen. Diese Umdeutungen ermöglichen eine Selbstinszenierung als unverstandene Widerstandskämpfer:innen (während diese selbst als Triebkraft einer nach rechts offenen Strömung auftreten) und begünstigt weitere geschmacklose Vergleiche.

Es ist ein altes Muster bei Rechtsextremen, aber auch bei Sekten und anderen extremen Gruppierungen, Verunsicherte mit Heilsversprechen, Sinn, Trost und Halt zu umwerben. Die Welt außerhalb wird als böse, gefährlich und bekämpfenswert dargestellt, man selbst hat den ehrenvollen Auftrag, sich und andere zu retten. Wer nicht mitzieht, will eben nicht “aufwachen”, lässt sich blenden. Konstruktive oder inhaltliche Kritik an gegenwärtiger Politik sind kaum vorhanden. Großer Wert liegt dagegen auf wiederkehrenden Symbolen, Affirmationen, Feind- und Sinnbildern, die die eigene Wahrheit als die einzige festschreiben und gleichzeitig die eigene Unschuld (“Licht, Liebe, Frieden”) unterstreichen sollen.

Die Anti-Corona-Bewegung hat sich auch nach Monaten niemals öffentlich von rechts distanziert, sondern offene einschlägige Symbole von Anfang an in ihrer Mitte toleriert. Gerechtfertigt wird dies beispielweise mit der auf den ersten Blick fortschrittlich anmutenden Behauptung, dass Kategorien wie links und rechts überholt seien – im Kampf gegen ein übergeordnetes Ziel. Es ist eine effektive Verschleierung ihrer extremeren Bestandteile, die die Anschlussfähigkeit auch an “Unpolitische” wie Gemäßigte sicherstellt. Die Bewegung ist eine Goldgrube für jeden, der sie für sich zu nutzen weiß.